Hochbegabung Teil 2
Herausforderungen für hochbegabte Kinder und Eltern
Wenn du direkt hier eingestiegen bist, möchtest du vielleicht zuerst Teil 1 – Hochbegabung erkennen, lesen. Wenn du dein Wissen über hochbegabte Kinder und die besonderen Herausforderungen vertiefen möchtest, dann findest du hier gut recherchierte Fakten und viele Beispiele was Eltern mit hochbegabten Kindern tun können.
Vorweg, es gibt 2 wichtige Theorien rund um Hochbegabte, die du unbedingt kennen solltest:
Meine persönliche Interpretation dazu:
Es gibt zwischen 15 und 45 % sogenannte Underachiever, die eine geringere Leistung erbringen, als ihr eigentliches Potenzial wäre. Sie fallen durchaus auch im Verhalten auf. Diese Zahl schwankt, da Underachievement nicht klar definiert ist: im unteren Bereich (bei ca. 15 %) geht man von extremen Auswirkungen aus.
Manche konstatieren jedoch bereits Underachievement, wenn Hochbegabte mit befriedigenden statt sehr guten Leistungen in ihrem Begabungsfeld unterwegs sind. So sind die 45% zu erklären.
Es gibt viele Hochbegabte, die sehr gute Leistungen erbringen und absolut unauffällig sind. Doch keiner weiß genau, wie viele das sind. Schätzen wir mal, es ist ein Drittel, immer noch besser als gar keine Angabe. Nehmen wir an, Underachiever mit moderater bis starker Auswirkung liegen auch bei einem Drittel (also zwischen den 15 und 45%). Dann liegt der Rest der Hochbegabten irgendwo in der Mitte verteilt. 😉
Um Hochbegabte mit Herausforderungen geht es hier
Und genau um diese Hochbegabten, die eben nicht absolut erfolgreich und zufrieden sind, geht es hier im Artikel. Sollte dein Kind Underachiever sein oder du dies vermuten, empfehle ich dir jedoch dringend, dich und dein Kind von einem darauf spezialisierten Psychologen begleiten zu lassen. Hochbegabte Kinder mit ausgeprägtem Underachievement brauchen ganz besondere Unterstützung. Um wieder auf die Beine zu kommen und um Selbstvertrauen aufzubauen und Bestärkung zu finden.
Welche Herausforderungen für Hochbegabte gibt es denn nun?
Es gibt nicht DEN EINEN Hochbegabten, der zweifelsfrei als solcher zu erkennen wäre. Dann wäre die Thematik viel einfacher. Es gibt jedoch typische Herausforderungen oder Merkmale, die hochbegabte Kinder und Erwachsene teilen. Dazu möchte ich dennoch gern anmerken, dass diese meist auf Beobachtungen beruhen und in Studien zwar untersucht, aber nicht immer eindeutig nachgewiesen werden konnten.
Auch ist die folgende Aufzählung keine Checkliste! Es heißt also nicht: Je mehr dieser Punkte zutreffen, umso wahrscheinlicher ist eine Hochbegabung.
Beispiele für Herausforderungen bei Hochbegabung
Unterschiedliche Entwicklung
Allgemein verläuft bei Hochbegabten die Entwicklung von Körper und Geist nicht gleich schnell. Ihr Denken ist häufig schneller entwickelt als ihre motorischenFähigkeiten. Dennoch ist es üblich, dass hochbegabte Kinder einige Entwicklungsschritte komplett überspringen.
Eine der Annahmen ist, dass sie die Tätigkeiten vorher im Kopf üben und dann durch rein mentales Training ausführen können. Das heißt beispielsweise häufig zu laufen, ohne vorher zu krabbeln oder von einem Tag auf den anderen Fahrrad fahren zu können.
Hochbegabte erleben mehr Stresssituationen.
Sie sind in ihrer Entwicklung nur selten altersentsprechend und häufig anderen weit voraus. Das kann zum einen Stress durch Unterforderung auslösen. Zum anderen ist aber kein Hochbegabter auf allen Gebieten den anderen voraus. Oftmals sind sie in Bereichen, in denen sie normal begabt sind, mit zu hohen Erwartungen konfrontiert.
Im Resultat sind sie sich ihres Könnens und in ihrer Selbsteinschätzung sehr unsicher. Das resultiert durchaus auch in Überforderung. Übrigens ist genau diese unterschiedliche Entwicklung auch für Eltern eine sehr große Herausforderung.
In beidem sind Hochbegabte Gleichaltrigen meist mehrere Jahre voraus. Das bringt viele der folgenden Herausforderungen mit sich.
In Gruppen fühlt sich das Kind tendenziell als Außenseiter und entwickelt Selbstzweifel. Gerade bei Kindern hat das massive Auswirkungen auf Beziehungen und das Zugehörigkeitsgefühl: Viele Kinder unterdrücken ihre Begabungen aus dem Wunsch heraus, dazuzugehören. Sie können sich häufig so gut anpassen, dass ihre besonderen Potenziale sogar verkümmern.
Hochbegabte Kinder präferieren häufig erwachsene Ansprechpartner oder ältere Kinder.
Diese entsprechen zwar eher dem intellektuellen Anforderungsniveau, stellen jedoch auch höhere Erwartungen. Wenn ein Kindergartenkind mit Schulkindern befreundet ist, empfindet es sich schnell als defizitär, da es im motorischen Bereich häufig nicht mithalten kann.
Auch kann dies dazu führen, dass das kleinere Kind auf dem Spielplatz ausgegrenzt und ausgelacht wird. Die Größeren halten den Ball hoch und unerreichbar und bezeichnen das Kind als Baby oder Ähnliches. Das ist schwer zu verkraften und zu verstehen. Außerdem eckt es womöglich durch seine ungewöhnlichen Interessengebiete und sein Sachwissen an. Als Resultat wenden sich hochbegabte Kinder dann doch auch kleineren Kindern zu.
Körperlich aggressives Verhalten ist für viele Hochbegabte nur schwer zu ertragen.
Rempeleien auf dem Spielplatz oder Schulhof sind für sie eine Qual. Es kann jedoch durchaus sein, dass ein motorisch geschickter Hochbegabter auch für Jüngere oder Schwächere einsteht und hilft, da Hochbegabte häufig ein starkes Gerechtigkeitsempfinden haben.
Auch wenn Aggressionen primär eher selten sind, kann beispielsweise andauernde Unterforderung einen derart starken Frust auslösen, dass diese Kinder durchaus störend und gar aggressiv auffällig werden. Dies ist jedoch eher als Hilferuf zu verstehen.
Menschen mit Hochbegabung wollen Inhalte verstehen.
Etwas, das unlogisch oder sachlich nicht richtig ist, wird daher häufig hinterfragt und diskutiert. Das Leben und Einhalten von Regeln und Grenzen kann dabei eine besondere Herausforderung werden und Eltern stark fordern.
Wenn Eltern, Lehrer und Erzieher ständig hinterfragt werden und die Kinder deren Autorität in Frage stellen, wirken die Kinder neunmalklug, anmaßend und widersetzlich, auch wenn sie auf Fakten hinweisen. Später könnten diese Kinder stark gegen Systeme und Autoritäten rebellieren.
Ein besonders hohes oder besonders geringes Schlafbedürfnis kommt vor.
Häufig gibt es Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen. Es wird ein Zusammenhang mit der emotionalen Wahrnehmung vermutet und dass diese besonders sensiblen Kinder ihre Gefühle tagsüber nicht ausreichend verarbeiten können. Hier können Eltern eine Gesprächskultur etablieren, in der sie über ihre eigenen Gefühle sprechen und verbal aufzeigen, wie sie diese regulieren.
Sie können das Kind beispielsweise fragen, wie es ihm heute ergangen ist und wie es sich fühlt, anstelle von Fragen, die darauf abzielen, was es heute getan hat. Diese Gefühlskultur in einer Familie zu etablieren, ist jedoch ein längerer Prozess. Es ist jedoch eine wichtige Prävention, um Kopf- und Bauchschmerzen sowie ähnliche körperliche Stressanzeichen zu verhindern oder wieder in den Griff zu bekommen. Diese sind bei hochbegabten Kindern leider nicht selten.
Hochbegabte Kinder langweilen sich schnell bei sich wiederholenden Aufgaben und Routinetätigkeiten.
Das kann bis hin zum Bore-out führen. Schwierige Aufgaben können dabei eine regelrechte Euphorie auslösen und einen fast meditativen Zustand, in dem die Kinder total in der Materie aufgehen und nicht mehr ansprechbar sind.
Es ist besonders wichtig, dass Kinder Herausforderungen erleben, die sie schaffen können, denn dies schüttet Endorphine aus. Diese werden nur ausgeschüttet, wenn wirklich eine Anstrengung notwendig war. Das Erfolgserlebnis mit den Glückshormonen ist ein wesentlicher Antrieb, damit das Kind sich wieder anstrengen möchte, und darüber hinaus auch eine wichtige Voraussetzung, um die Neugier auf Neues zu erhalten.
Dies ist eine der Ausgangslagen für Underachievement. Diese Konstellation ist als reines Ergebnis für einen Hochbegabten und sein Umfeld schwer zu verstehen. Wie kann es sein, dass ein besonders begabtes Kind den Anschluss, womöglich sogar im Themengebiet der Begabung, verliert? Die Ursache dafür ist häufig zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt entstanden.
Vor lauter Frust zerstören sie gegebenenfalls die Zeichnung oder die Stifte. Das kann zu Fehlinterpretationen anderer führen, und das Kind ist häufig selbst noch nicht in der Lage, sein Dilemma zu schildern.
Einige Kinder bringen sich selbst das Lesen oder Rechnen bei.
Sie fallen früh dadurch auf, dass sie Interesse an Zeichen haben. Sie müssen nicht unbedingt zählen können, aber sie „rechnen“ in Alltagssituationen oder haben ein gutes Gefühl für Mengen.
Hochbegabte Kinder können besonders energetisch sein.
Manchmal lasten sie sich körperlich extrem aus, wenn sie geistig unterfordert sind. Hochbegabte können aber auch sehr zurückgezogen und ruhig sein.
Gerade hier, weil das Kind eben nicht störend auffällt, ist es besonders wichtig, genau hinzusehen und zu prüfen, ob das Kind zufrieden ist und seine Bedürfnisse erfüllt sind oder ob es Unterstützung benötigt. Manche Kinder sind sehr glücklich für sich allein, und es sorgen sich eher die Eltern um ihr Sozialleben, manche leiden aber auch massiv unter fehlenden Gleichgesinnten.
Reizüberflutung
Hochbegabte Kinder – aber auch hochbegabte Erwachsene – leiden häufig unter Reizüberflutung. In Einkaufszentren, auf lauten Veranstaltungen oder in großen Räumen wie einer Mensa, aber auch in Schul- und Kindergartengruppen ist die Lautstärke für sie zum Teil unerträglich.
Kinder halten sich häufig die Ohren zu oder weinen. Sie können selbst laut sein oder auch laute Musik genießen, wenn sie die Lautstärke selbst kontrollieren können, werden aber durch unkontrollierbare Geräusche in ihrer Umgebung sehr gestresst. Gleiches gilt für überhöhte Licht-, Berührungs- und Geruchsempfindlichkeit. Sie können sich dann nicht wohlfühlen oder konzentrieren.
Besonders introvertierte, aber auch besonders energetische Kinder erleben es als Herausforderung, adäquat auf andere Kinder zuzugehen. Dass sie sich zusätzlich noch für „sonderbare“ Themen interessieren, macht es schwer, mitzureden. Eltern können ihrem Kind helfen, Gleichgesinnte zu finden, beispielsweise über Vereine, und mit ihnen üben, auf andere Kinder zuzugehen.
Kinder erkennen sehr feinfühlig, wenn sie anders sind, häufig schon im Kleinkindalter.
Sie versuchen an sie gestellten Erwartungen gerecht zu werden. Häufig imitieren sie Gleichaltrige und verstecken ihre Talente. Sie werden Experten darin, eine andere Rolle einzunehmen, und lernen sehr früh, sich an anderen zu orientieren – bis hin zu dem Gedanken, dass andere besser und sie selbst defizitär sind.
Die oben genannten Herausforderungen sind nur einige von vielen. Doch eines betrifft sie alle:
Hochbegabte sind selten, 2 % der Gesellschaft.
In der Regel sind hochbegabte Kinder im Kindergarten oder in der Schulklasse die Einzigen ihrer Art. Von ihnen verlangen wir, dass sie lernen, sich einzufügen, anzupassen und zu behaupten. Wir unterstellen ihnen, Schule müsste ihnen leichtfallen. Stellt man sich jedoch umgekehrt einen normal begabten Schüler in einer Klasse voller Hochbegabter vor: Die anderen Kinder sind im Lösen der Aufgaben schneller, lernen und denken anders, haben andere Interessen.
Dieses Kind würde genauso sehr an sich selbst zweifeln, Selbstvertrauen verlieren, vermutlich resignieren oder sogar depressive Symptome entwickeln. In dieser Lage befinden sich viele Hochbegabte.
Es gibt eine große Dunkelziffer
Viele Menschen erfahren erst spät von ihrer Hochbegabung. Die Betroffenen selbst begreifen häufig am wenigsten, warum sie sich manchmal so unzufrieden, angespannt und unausgeglichen fühlen. Sie verspüren nach der Diagnose häufig eine Erleichterung und eine Erklärung für ihre Andersartigkeit. Das verdeutlicht die Belastung, die von dieser Gabe ausgehen kann.
Dabei werden viele Hochbegabte fälschlicherweise anders oder falsch diagnostiziert und zum Teil pathologischen Krankheitsbildern zugeordnet. Besonders häufig sind Überschneidungen der Symptome mit ADHS und oder ASS (Autismus Spektrum). Zu Hochbegabung UND ADHS findest du hier im Blog den verlinkten Artikel.
Familien mit Hochbegabung
Übrigens werden potenziell hochbegabte Jungs häufiger zu IQ-Tests geschickt. Ich mag es zwar nicht, zu gendern, und glaube, dass Mädchen und Jungen exakt die gleichen Chancen haben (könnten) und erhalten sollen, jedoch werden tatsächlich Unterschiede beobachtet, die dazu führen, dass Jungen häufiger getestet werden. Ihre Reaktionen und ihr Verhalten fallen nämlich tendenziell deutlicher und negativer aus.
Hochbegabte Mädchen scheinen eher angepasst zu reagieren und sich auch stark an ihrem Umfeld zu orientieren. Dadurch fällt die potenzielle Hochbegabung bei Mädchen weniger auf.
In Familien tritt Hochbegabung gehäuft auf. Das heißt, dass durchaus mehrere Geschwister über besondere Begabungen verfügen können.
Es ist ohnehin schon nicht einfach, mehreren Kindern ausgewogen gerecht zu werden. Wenn eines oder mehrere sehr herausfordernd sind und besondere Unterstützung brauchen, ist es manchmal ein Balanceakt für die ganze Familie. Was die Familie auch mit der Herkunft der Hochbegabung zu tun hat, liest du in Teil 3!
Fazit
Viele hochbegabte Kinder werden trotz der bestehenden Herausforderungen völlig glücklich und zufrieden aufwachsen. Eure Kinder verfügen durch ihre Hochbegabung über ganz besondere Ressourcen! Stärken, die genutzt werden können, auch um eure Herausforderungen als Eltern hochbegabter Kinder zu lösen.
Du hast Erfahrungen mit ähnlichen Herausforderungen gemacht und wünschst dir deshalb eine persönliche Beratung? Dann melde dich gerne für ein unverbindliches Erstgespräch.
Tipps
Was Eltern von hochbegabten Kindern tun können
Dein Kind ist nicht in allen Bereichen hochbegabt und anderen voraus.
Es kann ganz alltägliche Bereiche geben, in denen dein Kind Unterstützung braucht. Denk dran, emotionale, soziale, motorische und kognitive Fähigkeiten können sehr unterschiedlich weit entwickelt sein.
Für Eltern hochbegabter Kinder:
Der Blick von Eltern mit hochbegabten Kindern kann sich einseitig auf die Vorteile der Hochbegabung auswirken
„mein Kind ist hochbegabt und ist großartig und braucht keine Hilfe“
oder aber auch auf die Herausforderungen einengen.
„mein Kind ist hochbegabt und deswegen ist ständig irgendwas anstrengendes“
Mach dir bewusst, dass es jeweils lediglich EINE Facette deines Kindes ist und schaue vor allem offen auf das, was du mit deinem Blickwinkel nicht erwartest.
Binde die besonderen Fähigkeiten deines Kindes bei Herausforderungen mit ein!
Was kann es gut? Es kann gut verhandeln, ist innovativ, wehrt aber Vorschläge oder Aufforderungen deinerseits ab? Dann binde es in die Lösungsfindung mit ein. Kognitiv starke Kinder können erstaunliche Lösungsansätze finden, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen, diese Kompetenz zu entwickeln und einzubringen.
Hochbegabte Mädchen fallen weniger auf.
Es gibt sie aber genauso häufig. Bei Geschwistern sind in vielen Fällen mehrere Kinder hochbegabt.
Herausforderung Underachievement
Wenn bei deinem Kind die Leistungen abfallen oder du eine Wesensveränderung beobachtest, dann können das ernstzunehmende Anzeichen für ein sich entwickelndes Underachievement sein. Dazu empfehle ich Eltern mit hochbegabten Kindern mit einem darauf spezialisierten Kinder- oder Jugendpsychologen zu arbeiten und das nicht aufzuschieben!
Sprich mit deinem Kind über seine Herausforderungen.
Aber halte es ganz nach Maria Montessori: sprich niemals vor deinem Kind über seine Schwierigkeiten mit jemand anderem! Auch wenn es ganz natürlich ist, dass Eltern von hochbegabten Kindern den Bedarf haben, sich auszutauschen. Das ist auch in einem Elterncoaching oder einer spezialisierten Beratung möglich.
Von Marina Bernardo
Gründerin von Coachiba, Unternehmerin und zweifache Mama.
Alle Coachiba Blogbeiträge sind selbst verfasst und umfangreich recherchiert – ergänzt mit Tipps aus meiner Tätigkeit als Beraterin und Coach. Da im Netzt immer mehr Inhalte reiner KI-Tool Produkte auftauchen, ist es mir wichtig das bewusst zu machen.
Viel Spaß beim Lesen!